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touché.ch empfiehlt zweimal NEIN!
Selbstbestimmungsinitiative
Die sog. Selbstbestimmungsinitiative zielt auf eine Kündigung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ab. Die EMRK schützt jeden einzelnen von uns vor staatlicher Willkür und Eingriffen in seine Grundrechte. Es handelt sich um die letzte Rückversicherung der Bürgerinnen und Bürger.
Die EMRK schützt insbesondere auch die Rechte von Versicherten und Minderheiten. So können Asbestopfer dank der EMRK Schadenersatzansprüche geltend machen. Sämtliche Schweizerischen Gerichte und auch das Bundesgericht haben zuvor geurteilt, dass allfällige Ansprüche bereits verjährt seien, noch bevor die Krankheit überhaupt ausbrach. Das Argument der Befürworter, die Grundrechte seien bereits in der Bundesverfassung enthalten und es brauche keine EMRK, stimmt nicht. Ohne den Menschenrechtsgerichtshof würden Asbestopfer heute weiterhin keine Entschädigungen erhalten, würden Teilzeiterwerbstätige (v.a. Frauen und Mütter) weiterhin von der IV systematisch diskriminiert und würden viele fundamentale Verfahrensrechte nicht existieren. Wer für diese Initiative ist, beschneidet somit seinen eigenen Grundrechtsschutz. Jeder kann einmal in die Situation gelangen, auf die EMRK angewiesen zu sein. Deswegen sagt touché.ch NEIN zu dieser Initiative.
Observationsartikel
Missbrauchsbekämpfung ja, aber nicht so!
Ja, Missbrauch muss bekämpft, geahndet und bestraft werden. Darin sind sich alle einig. Was das Parlament aber nun in Windeseile durchgeboxt hat, ist rechtstaatlich nicht hinnehmbar. Innerhalb von Rekordzeit wurde ein Gesetz ins Leben gerufen, welches sämtlichen Sozialversicherungen Observationen ohne vorgängige richterliche Bewilligung erlaubt. Damit erhalten diese mehr Macht als die Polizei, denn diese darf nicht in den Privatbereich observieren. Der erste Gesetzesentwurf sah ursprünglich einen Richtervorbehalt für sämtliche Überwachungsmassnahmen vor. Die Versicherungslobby opponierte und die zuständige Kommission strich die richterliche Kontrolle ohne Widerstand aus dem Gesetzestext. Ein beispielloser Vorgang in einem Schweizerischen Gesetzgebungsverfahren.
Dass eine gewinnorientierte Kranken- oder Unfallversicherung ohne richterliche Genehmigung selber entscheiden darf, wer observiert wird und wer nicht, ist rechtsstaatlich nicht hinnehmbar. Es ist nicht einzusehen, weshalb die Sache nicht vorab einem unabhängigen Richter vorgelegt werden muss, der innerhalb weniger Tage den Anfangsverdacht unabhängig überprüfen kann. Kein einziger Versicherungsbetrüger würde mit so einer richterlichen Vorabprüfung durch die Lappen gehen. Auf der anderen Seite könnte aber viel Leid bei Personen verhindert werden, bei denen der geltend gemachte Anfangsverdacht einer richterlichen Überprüfung nicht standhält. Denn längst nicht jeder der observierten Personen ist ein Versicherungsbetrüger. Viele wurden in der Vergangenheit zu Unrecht observiert. Insbesondere für psychisch kranke Menschen kann so eine Observation erhebliche Spuren hinterlassen. Aus diesen Gründen ist das Gesetz an den Absender zurückzusenden, damit eine rechtstaatlich einwandfreie Grundlage geschaffen werden kann.
Links zu Berichten von Betroffenen:
- https://desktop.12app.ch/articles/10206167 (Tagesanzeiger vom 30.10.18)
- https://www.blick.ch/news/schweiz/mittelland/kranfuehrer-urs-c-geriet-ins-visier-von-sozialdetektiven-ich-fuehle-mich-heute-noch-verfolgt-id9058995.html (Blick vom 2.11.18)
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Da ist Dynamit drin! - öffentliche Beratung vom 30.8.2018 (8C_525/2017) vor Bundesgericht
Das Bundesgericht beriet am 30.8.2018 öffentlich über einen Fall, bei dem es um eine Wiedererwägung infolge unterlassener Adäquanzprüfung nach Art. 53 ATSG ging. Das Urteil könnte für versicherte Personen, die schon länger eine Unfallrente aufgrund eines nichtobjektivierbaren Gesundheitsschadens beziehen, weitreichende Konsequenzen haben.
Worum ging es?
Die Versicherte erlitt im Jahr 1997 einen Unfall und zog sich u.a. eine HWS-Distorsion zu. Ihr wurde nach einem vom Unfallversicherer in Auftrag gegebenen neurologischen Gutachten im Jahr 2002 eine Unfallrente auf der Basis eines IV-Grades von 73% zugesprochen. In der Folge wurde im Jahr 2013 ein Revisionsgutachten bei einer MEDAS eingeholt und es wurden die Rentenleistungen daraufhin eingestellt. Die Versicherte zog den Fall bis ans Bundesgericht weiter, welches die Angelegenheit an die Vorinstanz zwecks Ergänzung des MEDAS-Gutachtens zurückwies.[1] Nach Eingang des Ergänzungsgutachtens bestätigte das Verwaltungsgericht die Renteneinstellung aufgrund offensichtlicher Unrichtigkeit. Bereits das erste neurologische Gutachten sei laut den Verwaltungsrichtern mit Mängeln behaftet und die damalige Rentenzusprache daher offensichtlich unrichtig gewesen. Die Versicherte erhob in der Folge dann zum zweiten Mal Beschwerde ans Bundesgericht.
Das Bundesgericht gewährte den Parteien in der Folge das rechtliche Gehör. Die zuständige Bundesrichterin war der Auffassung, dass die Leistungszusprache aus einem anderen Grund offensichtlich unrichtig sei: Die Unfallversicherung habe damals im Jahr 2002 nie eine Adäquanzprüfung vorgenommen, was offensichtlich falsch gewesen sei. Um die Frage, ob eine solche Prüfung nicht zumindest implizit von der Unfallversicherung vorgenommen worden sei, und welche Folgen dies für den Fall habe, konnte zwischen den Bundesrichtern keine Einigung gefunden werden, weshalb eine öffentliche Urteilsberatung für den 30.8.2018 angesetzt wurde.
An der Beratung in Fünferbesetzung kam es zu einer heftig und teilweise emotional geführten Debatte.
Die Referentin war der Auffassung, dass infolge fehlender Adäquanzprüfung von offensichtlicher Unrichtigkeit auszugehen sei und die Adäquanzprüfung nach heutiger Sach- und Rechtslage nach BGE 134 V 109 nachzuholen sei.[2] Es gehe um die Wiederherstellung des rechtmässigen Zustands „ex nunc et pro futuro“.
Für den Gegenreferenten war diese Beratung die „wichtigste des Jahres”. Es gehe hier um mehr, als nur um die Beschwerdeführerin, sondern um das wichtige Gut der Rechtssicherheit. Er war der Auffassung, dass man zumindest von einer impliziten Adäquanzprüfung ausgehen müsse. Es sei undenkbar, dass eine Unfallversicherung kapitalisierte Leistungen im annähernd siebenstelligen Bereich zahle, ohne die Leistungsvoraussetzungen genau zu prüfen. Die Unfallversicherung habe zudem nie behauptet, keine Adäquanzprüfung durchgeführt zu haben. Im Gegenteil ging sie in einer Stellungnahme an das Bundesgericht von einer „konkludenten“ Adäquanzprüfung aus. Er war weiter der Auffassung, dass zu prüfen sei, ob die Leistungen damals zu Unrecht zugesprochen worden seien oder nicht. Auch das Resultat müsse offensichtlich unrichtig sein. Würde die Adäquanzprüfung nach damaligen Grundsätzen nachgeholt, müsse man zum Schluss kommen, dass die Versicherte die Leistungen zu Recht erhalten habe und diese daher auch weiterhin auszurichten seien. Er kommentierte die Rechtsauffassung der Referentin mit dem Satz: „Da ist Dynamit drin!“. Die Adäquanzprüfung könne ohne weiteres nach damaligen Massstäben vorgenommen werden, wie dies auch schon in früheren Fällen gemacht worden sei.[3] Der Fall sei nicht vergleichbar mit der Konstellation, in welcher der Versicherung eine Abklärungspflichtverletzung vorgeworfen werde und der damalige medizinische Zustand im Nachhinein nicht mehr erstellt werden könne.
Die Gegenseite konterte, dass man auch bei unterlassener Begutachtung bei Rentenzuspache die Begutachtung nachhole und den Fall nach aktueller Sach- und Rechtslage „ex nunc et pro futuro“ überprüfe.[4] Insofern werde „keine Bombe“ gezündet, sondern „höchstens ein bengalisches Feuer“, so der Bundesrichter, der sich der Meinung der Referentin anschloss.
Die Gerichtsminderheit stellte schliesslich den Antrag, die Schwesterabteilung im Rahmen von Art. 23 BGG beizuladen, da sie von einer entscheidenden und einschneidenden Rechtsprechungsänderung ausging. Die Mehrheit lehnte jedoch diesen prozessualen Antrag ab und setzte sich auch im Hauptpunkt durch, weshalb die Beschwerde mit 3:2 abgewiesen wurde.
Kommentar von Schadenanwalt Rainer Deecke: Es ist nicht einzusehen, weshalb die versicherte Person für den „Fehler“ der Unfallversicherung einzustehen hat. Richtig wäre es gewesen, danach zu fragen, ob die versicherte Person Rentenleistungen erhalten hätte, wenn die Unfallversicherung damals eine korrekte Adäquanzprüfung vorgenommen hätte. Aufgrund der damaligen Sach- und Rechtslage hätte die versicherte Person solche Leistungen erhalten, dies war vor Bundesgericht nicht bestritten. Der Fall ist zudem stossend, weil erst das Bundesgericht beim zweiten Anlauf auf die Idee kam, die fehlende Adäquanzprüfung zu rügen: Weder die Vorinstanzen, geschweige denn die involvierte Unfallversicherung oder auch das Bundesgericht im ersten Verfahren brachten je das Argument vor, es sei damals keine Adäquanzprüfung vorgenommen worden. Dies, obwohl anlässlich der Beratung von einem Bundesrichter vorgebracht wurde, es „steche sofort in’s Auge“, dass keine Adäquanzprüfung vorgenommen worden sei. Das Urteil ist eine Steilvorlage für jede Unfallversicherung, nun ihre Dossiers nach Fällen zu durchforsten, in denen die Adäquanzprüfung nicht explizit in den Akten erwähnt wurde.
[1] Urteil 8C_899/2015 vom 29.9.2016
[2] Seit BGE 134 V 109 sind so gut wie keine langfristigen Leistungen mehr bei sog. nicht objektivierbaren Gesundheitsschädigungen zugesprochen worden;
[3] 8C_425/2016 in: SVR 2017 UV Nr. 16
[4] So wie in 8C_196/2016 vom 26.10.2016 (damals noch offengelassen ob nach damaliger oder heutiger Praxis)
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